Was bedeutet „vererbtes Trauma“? 

Ein Trauma ist eine besonders starke körperliche und/oder seelische Verletzung, die in überwältigenden Situationen entstehen kann, z. B. bei Gewalterfahrungen, sexuellen Übergriffen, Naturkatastrophen, schlimmen Unfällen, Hungersnöten und extremer Angst. Unverarbeitete Traumata führen dazu, dass Menschen dauerhaft seelisch und mitunter auch körperlich belastet sind, was sich erheblich auf den persönlichen Lebensweg und Beziehungen auswirken kann. Manchmal wiegen die Probleme so schwer, dass ein normaler Alltag nicht mehr möglich ist. 

Mensch von hinten, der sich den Kopf mit beiden Händen hält während über ihm ein Blitz einschlägt

Oftmals sind verdrängte Traumata den Betroffenen jedoch auf den ersten Blick überhaupt nicht anzumerken. Vielleicht nehmen wir wahr, dass sich ein Mensch in bestimmten Situationen „merkwürdig“ verhält, sind jedoch nicht in der Lage, die Ursache zuzuordnen. Gerade in diesen Fällen kann es passieren, dass sich die Problematik in nachfolgenden Generationen ihren eigenen Weg an die Oberfläche bahnt und Kinder oder Enkelkinder unter den Folgen leiden. 

Traumatische Erfahrungen beeinflussen nämlich nicht nur auf psychologischer Ebene unser Verhalten. Sie können nach neuesten Erkenntnissen der Epigenetik auch bewirken, dass bestimmte Gene „aus-“ oder „eingeschaltet“ werden, sodass es zur sogenannten „transgenerationalen Weitergabe“ kommt. Forscher vermuten, dass traumatische Erfahrungen unserer Vorfahren somit dazu führen, dass wir unter unerklärlichen Ängsten, destruktiven Verhaltensmustern und mitunter sogar körperlichen Symptomen leiden. Besonders intensiv erforscht wurde das bei Nachfahren von Holocaust-Überlebenden. 

10 Anzeichen eines vererbten Traumas

Folgende Anzeichen sprechen dafür, dass Sie unter den Folgen eines vererbten Traumas leiden: 

  • Unerklärliche Angst

Kriegstraumata vorheriger Generationen können z. B. zu Angst vor Verlust oder einem permanenten Bedrohungsgefühl sowie übertriebener Vorsicht führen. Nachfahren haben dann mitunter das verstärkte Bedürfnis, Lebensmittel zu horten oder sich auf anderen Wegen für den Katastrophenfall vorzubereiten. 

  • Schuldgefühle

Menschen, die Kriege und Katastrophen überleben, sind häufig von Schuldgefühlen, der sogenannten „Survivors Guilt“ – zu Deutsch der Schuld der Überlebenden – geplagt. Diese kann sich auf Nachfahren auswirken. Zudem führen Missbrauchserfahrungen manchmal auch zu Schuld- und Schamgefühlen in den Folgegenerationen, ohne dass diese überhaupt wissen, was vorgefallen ist. 

  • Bindungsprobleme

Mit dem Gefühl „dass nichts sicher ist“, fällt es Menschen, deren Vorfahren Traumatisches erlebt haben, oft schwer, sich richtig auf einen Partner einzulassen. Dabei kann es durchaus passieren, dass sie heiraten und eine Familie gründen. Sie bleiben aber innerlich immer etwas auf Distanz, weil Liebe und Nähe für sie mit Schmerz und Verlustangst verbunden sind. Missbrauchserfahrungen können ebenfalls zu einer grundlegenden Angst oder Misstrauen gegenüber Männern und somit zu Bindungsproblemen führen. 

  • Schweigen

Manche Erfahrungen sind so schlimm, dass selbst in Familien nicht darüber gesprochen wird. Das gilt für kollektive Traumata wie Krieg, Vertreibung und Hunger genauso wie für individuelle Traumata, z. B. den Verlust eines Kindes. Dieses Schweigen führt dazu, dass Gefühle sich aufstauen und – wenn überhaupt – auf destruktive Weise kanalisieren. Manchmal haben erst spätere Generationen die Kraft das Schweigen zu brechen. 

  • Stress

Die Epigenetik hat bereits in Studien gezeigt, dass Nachfahren von Trauma-Betroffenen häufig auffällige Stressreaktionen zeigen. Sie sind empfindlicher, schneller gestresst und besonders gefährdet, psychosomatische Symptome zu entwickeln. In der Holocaust-Forschung wurde aber auch deutlich, dass es Nachfahren gibt, die sich durch eine besonders hohe Resilienz auszeichnen. Ihren Vorfahren war es gelungen, den schlimmen Bedingungen zu trotzen und ihnen in gewisser Weise sogar einen Sinn für das eigene Leben zu geben.

  • Erschöpfung

Unerklärliche Gefühle und problematische Verhaltensweisen oder Beziehungsmuster belasten Menschen. Und das kann zu seelischer und körperlicher Erschöpfung führen. Betroffene fragen sich dann: „Was ist eigentlich los mit mir?“ Besonders problematisch ist das, wenn auch das Umfeld mit Unverständnis reagiert, weil keine Ursache auszumachen ist. 

  • Innere Unruhe

Innere Unruhe kann damit zusammenhängen, dass Vorfahren auf der Flucht waren. Zum Beispiel im Krieg oder aufgrund einer Naturkatastrophe. Bei den Nachfahren kann das zu sehr wechselhaften Biografien führen. Gefühle wie „Ich bin angekommen“ oder „Es ist alles in Ordnung“ stellen sich einfach nicht ein. 

  • Perfektionismus

Perfektionismus ist ein Symptom, das z. B. bei manchen Nachfahren der Holocaust-Überlebenden auffiel. Sie trugen das Gefühl in sich: Ich muss perfekt sein. Nur durch Perfektion und möglichst viel Kontrolle, in dem mir zur Verfügung stehenden Radius, schaffe ich es, zu überleben. 

  • Abgrenzungsprobleme

Die Übertragung von Traumata kann mit dem Gefühl einhergehen, sich von den Eltern nicht richtig abgrenzen zu können. Kinder identifizieren sich mit Mutter oder Vater, übernehmen unbewusst Emotionen, um die Erwachsenen zu entlasten, und werden damit aber selbst zu „Belasteten“. 

  • Körperliche Symptome

Unverarbeitete Gefühle manifestieren sich oft körperlich, z. B. durch Verspannungen, Schlafstörungen, Kopfschmerzen, Herz-Rhythmus-Störungen, Verdauungsstörungen oder Hautausschläge. In der Auseinandersetzung mit dem vererbten Trauma ist es oft möglich, diese Symptome zu überwinden. 

Transgenerationales Trauma durch den 2. Weltkrieg

Durch den Zweiten Weltkrieg sind die Themen Krieg, Vertreibung, Gewalt und Hunger in vielen Familien noch gegenwärtig. Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand in Ihrer Familie traumatische Erfahrung gemacht hat, ist sehr hoch. Hinzu kommt, dass es in den 40er und 50er Jahren noch absolut unüblich und oft auch undenkbar war, über das Erlebte zu sprechen.

Viele Männer haben getötet und selbst erlebt, wie Kameraden verletzt wurden oder gestorben sind. Manche wurde gefoltert. Frauen und Kinder standen während der Bombardierungen Todesängste durch, litten womöglich Hunger oder wurden vergewaltigt – und das alles, ohne jemals darüber sprechen zu können. 

Frau steht auf DNA-Strang

Dass dies Spuren auch in den folgenden Generationen hinterlässt, ist kaum verwunderlich. Insofern lohnt es sich unbedingt, sich einmal näher mit diesem Thema transgenerationale Weitergabe zu beschäftigen. Empfehlenswert ist z. B. das Buch „Emotionales Erbe. Eine Therapeutin, ihre Fälle und die Überwindung familiärer Traumata“ von Galit Atlas. 

Wie kann man ein transgenerationales Trauma auflösen?

Unverarbeitete Traumata führen häufig zu Flashbacks. Betroffene fühlen sich plötzlich in schlimme Situationen zurückversetzt, weil Angst und Schmerz tief in ihr Nervensystem eingeschrieben sind. Gerade im Alter kommen solche Gefühle an die Oberfläche, z. B. bei Demenzpatienten. Nachfahren empfinden ähnlich, oft ohne sich bewusst zu sein, worauf sich die belastenden Gefühle eigentlich beziehen. Hier ist es ganz wichtig, Ursachenforschung zu betreiben und miteinander ins Gespräch zu kommen.

Manchmal hilft das Reden über die Gefühle schon dabei, sie aufzulösen. Und das ist auch möglich, wenn Ihre Vorfahren nicht mehr als Gesprächspartner zur Verfügung stehen – z. B. durch eine Psychotherapie bzw. psychologische Beratung, eine Familienaufstellung oder den Austausch mit anderen Betroffenen im Rahmen einer Gruppentherapie.

So entsteht ein Raum, in dem Sie eigene Denk- und Verhaltensmuster verstehen und kritisch hinterfragen können, um anschließend zu schauen, welche Alternativen es für Sie gibt. 

Fazit

Evolutionsbiologisch machen vererbte Traumata durchaus Sinn. Sie können z. B. dafür sorgen, dass nachfolgende Generationen in bestimmten Situationen besonders vorsichtig sind und somit die Chancen auf das Überleben sichern. Viele Menschen kennen die Ängste vor Dunkelheit oder tiefem Wasser, die uns Menschen seit Urzeiten begleiten, und gerade bei kleinen Kindern durchaus berechtigt sind. 

Wenn transgenerationale Weitergabe uns daran hindert, ein erfülltes, glückliches Leben im Hier und Jetzt zu führen, sollten wir das jedoch nicht einfach hinnehmen. Indem Sie sich den Traumata Ihrer Familie stellen, haben Sie die Chance, einen klaren Schnitt zu machen, damit zukünftige Generationen nicht mehr dadurch belastet sind. Zudem können Sie vielleicht sogar auch für Geschwister und Eltern zum Impulsgeber werden und innerfamiliäre Konflikte lösen. 

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